Stau als Chance

Einer aktuellen Statistik zur Folge stehen die Berliner so häufig im Stau wie niemand anderes in der Republik. Die Hauptstädter kommen insgesamt auf circa 154 Staustunden pro Jahr. Was für eine Verschwendung von Lebenszeit, könnte man im ersten Moment meinen. Doch bei einer genaueren Betrachtung kann Stau auch eine Chance sein.

Der Stau zwingt den Menschen zur Langsamkeit, ja teilweise sogar zum Stillstand. Gerade diese Entschleunigung und Stille wird aber von Experten häufig als Quelle der Entlastung und Regeneration genannt. Wenn man im Stress ist, sollte man nicht noch eine Aufgabe übernehmen oder versuchen, alles in noch kürzerer Zeit noch perfekter zu erledigen. Loslassen lautet das Motto der Stressstunden.

Wer im Stau steht hat keine Wahl. Alles Hupen, alles Fluchen, alle schlimmen Gedanken über die Unfähigkeit der hiesigen Stadt- und Verkehrsplaner wird nichts an der Situation ändern. Spirituell veranlagte Menschen sagen: Die rote Ampel ist der Freund des Buddhisten. So gesehen ist der Stau vielleicht die Chance des stressgeplagten Großstädters.

Es ist eine Chance, tief durchzuatmen und durch einen Moment der Achtsamkeit wieder zu sich selbst zu finden. Was redet man sich ein, wenn man im Stau steht? Man muß, man sollte, das darf nicht…Die Stoßstange des Vordermanns spricht eine andere Sprache. „Wenn du ein Problem hast und es nicht willst, hast du zwei.“ Tatsächlich ist der erste Schritt für eine positive Veränderung oft die Akzeptanz des unbefriedigenden Status Quo. Das kann man im Stau lernen. Das Unvermeidliche zunächst annehmen, um im nächsten Schritt das Beste daraus zu machen.

Wer im Stau steht, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Auto. Er muß immerhin nicht in der Kälte auf die S-Bahn warten. Und wenn er unter Zeitdruck steht, dann wartet eventuell ein wichtiger Termin auf ihn. Nicht jeder ist so begehrt, ja vielleicht sogar beliebt. Wer unter Druck steht, hat noch Ziele, Träume, Hoffnungen, könnte man etwas pathetisch sagen. Er ist also – so paradox es klingt – während er im Stau steht auf dem Weg und in Bewegung.

Manchmal hat man das Glück nicht allein im Stau zu stehen. Vielleicht hat man eine Leidensgenossin bei sich. Nun kann man gemeinsam schimpfen. Man hat einen gemeinsamen Gegner. Kaum etwas schweißt Menschen mehr zusammen, als ein äußerer Feind, auf dem man sich einigen konnte. Das Auto ist in diesem Moment auch wie der mysteriöse Raum in dem Stück von Jean Paul Sartre. Hinter geschlossenen Türen. Unter Druck zeigt der Mensch auch sein wahres Gesicht. Alles Böse, aber auch das wunderbar Menschliche, das Erhabene und Hilfreiche, kann sich so zeigen. Bei Sartre zerfleischen sich die Eingeschlossenen psychisch. Sie ertragen nicht die Einsicht, daß sie ihre Lebenschance verspielt haben und nun auf ewig in der Hölle schmoren müssen. Gefangen in einem Zimmer mit einer Handvoll Menschen, die sie verachten.

Kein Stau dauert ewig. Das ist die positive Botschaft. Aber die Zeit, die man eventuell mit einem anderen Menschen in dieser kleinen Gefangenschaft verbringen darf, kann auch eine Chance für die Beziehung sein. Wenn man nicht nur grübelt und flucht, sondern sich vielleicht tröstet, Mut zuspricht und einen Scherz macht, kann die kleine Hölle ein himmlisches Vergnügen sein.

Niemand steht gerne im Stau. Niemand liebt rote Ampeln. Niemand ist gerne gefangen. Durchatmen, akzeptieren und mit sich selbst oder einen anderen Menschen in Dialog zu gehen löst nicht nur den Stress. Es ist eine Chance wirklich frei zu werden… for Another day of Sun.


Über Innere-Staerke

Dipl.-Psychologe und Spezialist für Stressmanagement und Soziale Kompetenz. Teamtrainer und Berater in Personalentwicklung und Personaldiagnostik. Gründer von Innere Stärke Trainings und Coachings und Personalentwicklung3000
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